Von: Carolin Gißibl || Digitales Storytelling: Franziska Schäfer
Bamberg. Es war Januar 2010, als die ersten Missbrauchsfälle im Canisius-Kolleg Berlin öffentlich wurden. Was darauf folgte, war eine Welle von Enthüllungen: Die sogenannte MHG-Studie der katholischen Kirche identifizierte in Deutschland 3.677 betroffene Kinder und Jugendliche sowie 1.670 beschuldigte Kleriker. Experten gehen davon aus, dass dies lediglich die Spitze des Eisberges sei – die Dunkelziffer wird höher geschätzt.
Die Aufklärung und Aufarbeitung des katholischen Missbrauchsskandals in Deutschland müsse aus Sicht vieler Betroffener als gescheitert angesehen werden, hieß es in einem kürzlich veröffentlichten Schreiben der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ an die Abgeordneten des Bundestages. Fast ein Jahr ist Herwig Gössl Erzbischof von Bamberg. Was sagt der Geistliche zur Aufarbeitung innerhalb der Erzdiözese Bamberg?
1. Herr Erzbischof Gössl, wann haben Sie zum ersten Mal vom Missbrauch in der katholischen Kirche erfahren und was ging Ihnen durch den Kopf?
Es ist jetzt 15 Jahre her, dass die ersten Missbrauchsfälle in Deutschland öffentlich bekannt wurden. Die waren gefühlt weit weg. Und ich ging damals davon aus, dass das schreckliche Einzelfälle sind. Es überstieg meine Vorstellungskraft, dass es auch bei uns im Erzbistum Missbrauchsfälle geben könnte. Das hat sich dann geändert, als hier die ersten Vorwürfe bekannt wurden. Jeder einzelne Fall erschüttert mich, und ich denke: Wie ist das möglich, dass ein Priester, der sein Leben der Nachfolge Jesu widmet, sich an Kindern vergeht?!
2. Hat die katholische Kirche, insbesondere die Erzdiözese Bamberg, Ihrer Meinung nach alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Missbrauchsfälle aufzuarbeiten?
Ich denke schon, dass wir heute alles tun, was in unseren Möglichkeiten steht. Wir waren intensiv an der großen bundesweiten MHG-Studie beteiligt, die 2018 vorgestellt wurde. Wir haben einen Betroffenenbeirat und eine Unabhängige Aufarbeitungskommission eingerichtet. Diese Kommission hat vor wenigen Monaten einen Kriminologen von der Uni Greifswald und eine Rechtspsychologin aus Berlin mit einer wissenschaftlichen Studie beauftragt. Diese Studie, die bis 2026 läuft, soll sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und Schutzbedürftigen durch Kleriker zwischen 1946 und 2022 untersuchen.
Einen besonderen Stellenwert hat neben der Auswertung von Akten die Befragung Betroffener. Die Forscher bekommen volle Einsicht in alle Archivdokumente.
Mindestens so wichtig wie die Aufarbeitung ist aber auch die Prävention. Wir haben dafür schon lange eine eigene Fachstelle eingerichtet, die im ganzen Erzbistum umfassende Schulungen des gesamten Personals und auch der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter organisiert, die mit Schutzbefohlenen zu tun haben. Das sind verpflichtende Schulungen, die auch regelmäßig wiederholt werden müssen.
Seit Jahren arbeiten wir im ganzen Bistum an einer „Kultur der Achtsamkeit“, um Missbrauch zu verhindern. Wir wollen sichere Orte schaffen. Es ist im Erzbistum für jede Gemeinde und jede Einrichtung mit Hilfe vieler Haupt- und Ehrenamtlicher ein Schutzkonzept erarbeitet worden. Es macht Mut, dass sich so viele an diesen Maßnahmen beteiligen, und zeigt, dass das Thema allen wichtig ist. Ob damit tatsächlich alles Mögliche getan ist, müssen vermutlich künftige Generationen bewerten.
3. Der Betroffenenbeirat fordert seit Langem einen Sitz und eine Stimme im Arbeitsstab für sexuellen Missbrauch im Erzbistum Bamberg. Dieser Arbeitsstab beurteilt unter anderem die Plausibilität der vorgeworfenen Taten. Eine Entscheidung sollte fallen, wenn ein neuer Erzbischof berufen worden ist. Nun sind Sie schon fast ein Jahr im Amt: Wird der Betroffenenbeirat im Arbeitsstab einen Sitz und eine Stimme bekommen?
Es gibt Gründe dafür und dagegen, dass der Betroffenenbeirat im Arbeitsstab vertreten ist. Die müssen alle berücksichtigt und abgewogen werden, um auch die Arbeitsfähigkeit des Stabs zu gewährleisten. Derzeit ist der Betroffenenbeirat nicht im Arbeitsstab vertreten. Ich will aber nicht ausschließen, dass das in Zukunft anders sein kann.
4. Zahlreiche Missbrauchsfälle werden mit dem juristischen Argument der Verjährung nicht weiterverfolgt. Die Folge: Weder werden Täter zur Rechenschaft gezogen, noch wird Opfern eine Wiedergutmachung gewährt. Sollte die Kirche aus Respekt gegenüber den Betroffenen nicht allen Fällen auf den Grund gehen – unabhängig von staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren?
Man muss hier klar unterscheiden zwischen dem staatlichen Recht und der kirchlichen Aufarbeitung. Die Kirche macht genau das, was Sie fordern: Über den Rahmen des staatlichen Rechts hinaus werden Fälle aufgearbeitet und Anerkennungsleistungen gezahlt. Betroffene erhalten Zahlungen als Anerkennung des Leids, auch wenn die Taten strafrechtlich verjährt oder die Täter verstorben sind oder sich die Vorwürfe nicht juristisch eindeutig beweisen lassen. Dieses niederschwellige Anerkennungssystem ist unabhängig vom Rechtsweg, der jedem weiterhin offensteht.
Dass bestimmte Verbrechen nach gewisser Zeit verjähren, ist eine gesetzliche Regelung, die sicher auch ihre Berechtigung hat. Sie dient nicht dazu, den Täter zu schützen, sondern ist darin begründet, dass nach langer Zeit manche Fragen nicht mehr geklärt werden können und Rechtsfrieden hergestellt werden soll. Aber deshalb geht die Kirche mit ihren Anerkennungsleistungen über diese gesetzliche Regelung hinaus. Wir melden alle Fälle an die staatlichen Behörden, auch wenn sie lange zurückliegen oder die Täter verstorben sind. Ich kann aber keine Grundlage erkennen, warum die Kirche sich anmaßen sollte, besser und gründlicher aufarbeiten zu können, als sich das staatliche Institutionen zutrauen.
5. Wie erklären Sie sich den „Deckmantel des Schweigens“, welcher der katholischen Kirche immer wieder vorgeworfen wird – verstehen Sie, dass Betroffene sich nicht ernst genommen fühlen?
Diesen „Deckmantel“ gab es in der Vergangenheit, und er ist ein schweres Erbe für uns. Heute steht die Abwägung zwischen dem Daten- und Persönlichkeitsschutz und den Rechten der Betroffenen im Vordergrund. Es gibt auch Fälle, in denen die Betroffenen auf eigenen Wunsch vor der Öffentlichkeit geschützt werden. Ich kann nur alle Betroffenen ermutigen, sich zu melden und damit zur Aufarbeitung einen wichtigen Beitrag zu leisten. Wir haben eine unabhängige Rechtsanwältin, Eva Hastenteufel-Knörr, die als Ansprechpartnerin zur Verfügung steht. Und es gibt den Betroffenenbeirat, an den man sich auf Wunsch vertraulich wenden kann. Auch ich persönlich stehe jedem Betroffenen, der das wünscht, für ein Gespräch zur Verfügung. Ich kann nur allen, die Missbrauch durch Priester erlitten haben, um Verzeihung bitten für das Leid, das sie erfahren haben. Sexualisierte Gewalt ist immer ein schreckliches Verbrechen, unter dessen Folgen Menschen ein Leben lang leiden können.
Ich kann für meinen Verantwortungsbereich versichern: Die Zeiten, in denen Missbrauchstäter gedeckt und Taten vertuscht wurden, sind vorbei. Dafür stehe ich mit meinem Wort.
Herwig Gössl wurde 1967 in München geboren und ist in Nürnberg aufgewachsen. Nach dem Abitur trat er im Jahr 1986 ins Bamberger Priesterseminar ein und wurde im Jahr 1993 von Erzbischof Dr. Elmar Maria Kredel zum Priester geweiht. Im Jahr 2014 wurde er zum Weihbischof in Bamberg ernannt. Am 9. Dezember 2023 folgte die Ernennung zum neuen Erzbischof von Bamberg durch Papst Franziskus. Seine Amtseinführung fand am 2. März 2024 im Dom zu Bamberg statt.
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