Von: Stephan Großmann | Digitales Storytelling: Franziska Schäfer
Scherben liegen hier keine. Jedenfalls nicht mehr als anderswo. Wer dieser Tage in Forchheim zwischen Pestalozzistraße, Bammersdorfer Straße und Kantstraße unterwegs ist, dem weht frühlingshafter Wind um die Nase. Wind, der von den vielen, teils hochgeschossigen Häusern Gerüche und Geräusche aus aller Welt einsammelt.
Forchheim-Nord. Den vor Jahrzehnten aufgebrachten Stempel als „Scherbenviertel“ ist das Areal nie losgeworden. Heute beherbergt der Stadtteil in Forchheims Norden fast 5700 Menschen unterschiedlichster Herkunft.
5700 ganz unterschiedlich geschriebene Biografien jeden Alters, jeder Konfession, jeder Bildung. Was sie eint: Sie sind hier, eingerahmt zwischen Bahnlinie und Autobahn, zu Hause.
Lange ist viel über den „Problem“-Stadtteil geredet worden, lange ist er als viel zu dicht besiedelter Rand der Forchheimer Gesellschaft wahrgenommen worden. Forchheim-Nord, ein Leben zweiter Klasse.
Was ist dran an dem Stigma? Und was sagen die Bewohnerinnen und Bewohner selbst dazu?
Zeit für einen Rundgang und Zeit dafür, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Los geht es mit der rüstigen Rentnerin Brigitte Eidenhardt, die bereitwillig über „ihr“ Viertel sprechen möchte.
Brigitte Eidenhardt, Anwohnerin
Aufgewachsen in einem für die Gegend so typischen Bau der Joseph-Stiftung ist Brigitte Eidenhardt als junge Frau weggezogen. Sie gründete eine Familie, zog drei Kinder groß. Doch dann, mit 80 Jahren, ist sie in „ihr Forchheim-Nord“ zurückgekehrt. „Ich hatte hier eine wunderbare Kindheit“, erzählt die rüstige Seniorin. Daher sei sie gerne wieder hier. „Negatives kann ich kaum berichten. Manche Freundinnen beneiden mich sogar für meine zentrale Wohnlage.“
Wie die Anwohner ihr Viertel wahrnehmen
Sieht das der Rest der Bewohnerschaft ähnlich? Wie eine Befragung des Basis-Instituts vom Anfang des Jahres ergeben hat, ist das Meinungsbild in Bezug auf Forchheim-Nord sehr diffus. So würden es demnach immerhin sechs von zehn Befragten empfehlen, nach Forchheim-Nord zu ziehen. Und das, obwohl fast die Hälfte unzufrieden ist mit Vereins- und Sportangeboten, 37 Prozent mit Treffmöglichkeiten zur Kommunikation und 37 Prozent mit Freizeit- und Kulturangeboten.
der Menschen in Forchheim-Nord leben seit
ihrer Geburt hier
Dabei ist der Stadtteil stetig gewachsen, vor allem durch Zuzug. Zahlen des Bamberger Basis-Instituts zufolge wohnen nur 19 Prozent der Menschen seit ihrer Geburt hier, der große Rest ist im Laufe des Lebens hergezogen.
Roland Deinzer, Anwohner
Der ehemalige Schulleiter und Pfarrer wohnt seit 1991 in Forchheim-Nord. Dafür, dass er damals eher zufällig hierhergezogen ist, fühlt sich der 68-Jährige richtig wohl. „Man ist schnell in der Stadt, schnell im Kellerwald, schnell auf den großen Straßen“, sagt er. Was er bedaure, sind die raren Möglichkeiten, sich zu treffen, zueinander zu finden. Seit der Schließung des Café Nordstern gebe es kaum noch öffentliche Begegnungsorte. „Dabei sind die so wichtig“, sagt er. Denn Vereinsamung sei ein großes Thema; nicht nur, aber auch in dem bevölkerungsreichen Stadtteil.
Blick in die Geschichte
Forchheim-Nord in den 50er-Jahren
Dabei war das nicht immer so. Wie aus Chroniken des ehemaligen Leiters des Forchheimer Stadtarchivs Rainer Kestler hervorgeht, erstreckte sich der Stadtteil vor dem Zweiten Weltkrieg über die nördliche Bamberger Straße, die Bammersdorfer Straße und die Häuser des „sogenannten Nordbahnhofs“. Der Rest bestand aus Äckern und Wiesen.
Forchheim-Nord, Blick von der Schillerstraße 12
1946 sind laut Kestler die ersten Heimatvertriebenen nach Forchheim gekommen, bis 1951 hat Forchheim fast 4000 Menschen aufgenommen. Weil aber nicht genügend Wohnraum zur Verfügung gestanden hatte, entschied sich der Stadtrat damals dazu, neue Wohnungen im Norden zu bauen. So entstanden vor allem dank den gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften viele Wohnungen. Außerdem wurden neue Straßen sowie Kindergärten und Schulen gebaut.
Forchheim-Nord, Bau Kantstraße Frühjahr 1952
1950 wurden die ersten neuen „Hochhäuser“ errichtet, sechs Stück in der Kantstraße. In den folgenden Jahren folgten Hunderte Wohnungen quer durch das Viertel. Zudem ließen die Wohnungsbaugesellschaften Garagen, eine Bäckerei, Lebensmittelläden und Gewerberäume errichten.
Der Aufschwung in der Nachkriegszeit bescherte vielen Menschen neue Arbeitsplätze, in und um Forchheim herum. Bis heute ist Forchheim-Nord Anlaufstelle unter anderem für viele Pendler geblieben.
1953 | Einweihung Marienheim (lange als Raum für Gottesdienst genutzt) |
1956 | Eröffnung evangelischer Kindergarten |
1958 | Einweihung Kirche Verklärung Christi |
1962 | Bau der Adalbert-Stifter-Schule |
1967 | 118 Wohnungen der Joseph-Stiftung entstehen in der Pestalozzi-Straße |
1969 | Einweihung Realschule |
1970 | Einweihung der neuen „Christuskirche“ |
1977 | Bau der Sondervolksschule |
1984 | Neubau Berufsschule in Fritz-Hoffmann-Straße |
1986 | VfB Forchheim siedelt sich an |
1988 | Polizei zieht in Forchheimer Norden |
Mariette Oehme, Unternehmerin
Umgekehrt macht es Mariette Oehme, die zum Arbeiten in den Forchheimer Norden fährt. Die geborene Ungarin wohnt seit 33 Jahren in der Gegend. Im Haus ihrer Schwiegereltern in der Bammersdorfer Straße, in der bis 1996 unter anderem eine Bäckerei beherbergt war, betreibt sie seit 2005 ihr eigenes Sonnenstudio. „Ich habe noch nie schlechte Erfahrungen in Forchheim-Nord gemacht. Ganz im Gegenteil“, sagt sie.
Das ist ein richtig angenehmes Viertel.
Mariette Oehme
Wieso wurde Forchheim-Nord zum „Problemviertel“?
Überall da, wo auf relativ kleinem Raum viele Menschen leben, kommt es zu Konflikten. Vorbehalte gegenüber einigen Bevölkerungsgruppen in Forchheim-Nord hat es immer in der Geschichte des Viertels gegeben. Beispielsweise gegenüber Wohnungslosen, die im Eggolsheimer Weg ein Domizil gefunden haben.
Und gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund sowie Menschen mit sozioökomischen Problemlagen. Jene Gruppen also, welche von einer mehrheitlich budgetorientierten Wohnstruktur in Forchheim-Nord profitiert hatten und noch heute profitieren.
Knut Cramer, Pfarrer
Mit jenen Problemen konfrontiert sieht sich auch Knut Cramer, Pfarrer der Christuskirche. Gemeinsam mit seiner Frau kümmert sich der 40-Jährige seit 2020 um die Gemeinde vor Ort, kommt mit sehr vielen Menschen ins Gespräch. „Einige Leute engagieren sich für die Gemeinschaft“, sagt er. Seien es Rentnerinnen, geflüchtete junge Männer, Einheimische. Allerdings sei das auch nötig, es gebe viele, die auf Hilfsangebot und Unterstützung angewiesen seien.
Handlungsbedarf seit vielen Jahren bekannt
Im „Integrierten Handlungskonzept“ für die „Soziale Stadt Forchheim-Nord“ aus dem Jahr 2004 heißt es: „Der Anteil der Sozialhilfe- und Wohngeldempfänger ist im Vergleich zur Gesamtstadt überproportional hoch. Besondere Probleme bestehen auch bezüglich der Bildungsniveaus und der geringen Beschäftigungsmöglichkeiten vieler Bewohner. Zudem lebt im Stadtteil ein hoher Anteil integrationsbedürftiger Bevölkerungsgruppen.“
Mazen Safsaf mit Familie, Anwohner
Integrationsbedürftig ist auch Mazen Safsaf. Und willig. Der 47-jährige Syrer lebt seit 2015 gemeinsam mit seiner Frau sowie vier seiner fünf Kinder in einer Sozialwohnung im Viertel. Seine älteren Töchter gehen aufs Gymnasium, der größte Sohn macht gerade eine Ausbildung. Safsaf besitzt seit vier Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft, fühlt sich wohl in Deutschland. In Forchheim-Nord. „Multikulti“ gebe es hier, sagt seine 19-jährige Tochter Heba. „Und das ist doch das Schöne an dem Viertel.“
Armut nach wie vor großes Thema
Heute, 21 Jahre nach Erstellung dieses Handlungskonzepts für die „Soziale Stadt Forchheim-Nord“, liegen keine verlässlichen Zahlen vor, um die Aussage von 2004 zu untermauern oder zu dementieren. Doch nach Gesprächen mit Sozialarbeitenden, Vertreterinnen von Wohnungsbaugesellschaften und Ehrenamtlichen besteht die Annahme weiterhin, dass es in Forchheims Norden eine überproportionale Häufung prekärer Lebenssituationen gibt, häufig einhergehend mit finanziellen Schwierigkeiten.
Aber war und ist Forchheim-Nord ein „Scherbenviertel“, weil die Quote von sozial geförderten Wohnungen höher ist als die von schicken Einfamilienhäusern? Der anfangs zitierten Befragung zufolge empfinden es immerhin 39 Prozent der Befragten so, dass schlecht oder sehr schlecht über Forchheim-Nord geredet würde.
Thomas Hofmann-Ludwig und Franziska Ludwig, Anwohner
Thomas Hofmann-Ludwig wurde 1960 in Forchheim-Nord geboren, gerne denkt er an seine Kindheit kurz nach den Bauboom-Jahren zurück. Beispielsweise an seine Tätigkeit als erster Messdiener in der Kirche Verklärung Christi. Mit seiner Familie zog er als Erwachsener später weg, kam aber vor elf Jahren wieder her. Er und seine Frau fühlten sich wohl, sagen sie. Und doch machen sie klar, dass es einiges an Verbesserungspotenzial gebe. So sei die Wohnungssituation schwer, auch in puncto Infrastruktur gebe es Handlungsbedarf.
Städtebauförderungsprogramm - Soziale Stadt
Dabei hat sich in kaum einem Stadtteil so viel getan wie in Forchheims Norden. 2003 wurde er als Fördergebiet in das Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt” aufgenommen, seither sind viele Wohnungen gebaut oder (energetisch) saniert, Plätze umgestaltet und Schulen ertüchtigt worden. Jüngste Beispiele sind die Erweiterung des Carl-Zeitler-Kindergartens, die Neugestaltung des Joseph-Otto-Platzes sowie die Eröffnung des S-Bahnhalts.
Darüber hinaus sind Angebote für Menschen allen Alters geschaffen worden. Beispielsweise das Bürgerzentrum-Mehrgenerationenhaus in der Paul-Keller-Straße.
Kathrin Reif, Sozialpädagogin
Die 52-jährige Sozialpädagogin leitet das interkulturelle Begegnungs-, Beratungs-, Bildungs- und Servicezentrum (Bürgerzentrum-Mehrgenerationenhaus) in der Paul-Keller-Straße seit seiner Gründung im Jahr 2008. „Ich gehe gerne durch die Straßen und komme mit den Menschen ins Gespräch“, sagt sie. Vor allem mit jenen, die sie (noch) nicht über die vielen Angebote ihres Zentrums erreiche. Klar gebe es nach wie vor einige Probleme, vor allem Armut und Einsamkeit seien wichtige Themen. Aber von einem „Problemviertel“ wolle sie nicht sprechen.
Wo die Menschen zusammenfinden
Ein, wenn nicht der wichtigste, Anlaufpunkt ist das Bürgerzentrum-Mehrgenerationenhaus. Die Menschen können sich dort in sozialen oder rechtlichen Fragen beraten lassen, bekommen zweimal die Woche warmes Mittagsessen gespendet, treffen sich sonntags zum kostenlosen Frühstück oder unter der Woche zum Stricken, Singen und wie die „Omas gegen Rechts“ für gemeinsames politisches Engagement.
Dipak, Ehrenamtlicher
Der viel jünger wirkende Dipak wurde vor 50 Jahren in Indien geboren und zog als Jugendlicher nach Odessa. Nachdem Russlands Präsident Putin die Ukraine überfallen hatte, floh Dipak nach Deutschland. Der alleinerziehende Vater praktiziert seit Jahrzehnten Yoga und gibt seine Fertigkeiten nun als ehrenamtlicher Yoga-Lehrer in Forchheim-Nord weiter.
Gesellschaft wird immer älter
Wenngleich Forchheims Norden eine beachtliche Schuldichte entwickelt hat, scheint die Jugend (wie in vielen Bereichen der Gesellschaft) nicht besonders im Fokus. Das zeigt auch die Befragung des Basis-Instituts, laut derer 47 Prozent die Lebenssituation für Jugendliche als eher schlecht/sehr schlecht bewerten.
Ein Lichtblick ist die Offene Jugendarbeit für Forchheim-Nord, die ebenfalls dank des Förderprogramms „Soziale Stadt“ auf dem Gelände der Adalbert-Stifter-Schule ins Leben gerufen werden konnte.
Bettina Schuierer, Diplom-Pädagogin
Viele Kinder und Jugendliche hätten damals nicht gewusst, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollten, erzählt Bettina Schuierer. Also half die Diplom-Pädagogin 2006 dabei, die Offene Jugendarbeit als Nachfolger des Jugendtreffs Nordstern aufzubauen. Seit 2010 steht die Einrichtung unter Trägerschaft der Stadt Forchheim. „Manchmal kommen 35 am Tag, manchmal 60 Kinder und Jugendliche“, erzählt die 47-Jährige. In der Einrichtung können die Kinder spielen, backen, kochen, Musik hören und immer ein offenes Ohr finden. „Sie sollen sich wohlfühlen – und gehört“, sagt Schuierer.
Angst und Vorurteile
Dass sich viele Menschen in Forchheim-Nord nicht gehört fühlen, haben jüngst wieder die Ergebnisse der Bundestagswahl gezeigt. Weit überdurchschnittlich viele Menschen aus der Gegend haben – ähnlich wie schon bei den Landtags- und Europawahlen – der in Teilen rechtsextremen AfD ihre Stimmen gegeben.
Auch wenn der Migrationsanteil in Forchheim-Nord höher ist als in anderen Stadtteilen, sei die hiermit verbundene Angst einiger (lauter) Weniger nur ein Gefühl. Weder gibt es überdurchschnittlich viel Gewalt noch andere Delikte.
„Wir sehen Forchheim-Nord nicht als Problembezirk“, sagt der Leiter der örtlichen Polizeiinspektion Jochen Prinzkosky. Dass mehr Streifenwagen als anderswo zu sehen seien, liege daran, dass sich die Polizeistation im Stadtteil befinde.
Und doch bleibt vor allem das Thema Asyl ein heiß diskutiertes – auch und gerade in Forchheim-Nord. Nicht zuletzt darüber, dass ein Forchheimer Unternehmer in der Bammersdorfer Straße eine Flüchtlingsunterkunft errichtet, erregen sich aktuell einige Gemüter.
Zekeriyya Kolu, Bauherr
Der 46-jährige Zekeriyya Kolu wurde selbst in Forchheim-Nord geboren, nun baut er ein Flüchtlingsheim. Sein türkischer Vater kam einst als Gastarbeiter nach Deutschland – und blieb wie so viele. Dass Forchheims Norden multikultureller werde, empfindet Kolu als Bereicherung. Zumal es heute anders sei als früher: „Es ändert sich gerade viel zum Positiven, es entsteht viel Neues“, sagt er. So lasse sich Integration vorantreiben.
Multikulti hat in Forchheim-Nord zugenommen. Das bereichert die Gegend.
Zekeriyya Kolu
Was sich aktuell in Forchheim-Nord tut
Und es tut sich noch mehr im Viertel. So sollen sich irgendwann einmal mehr mittelständische Unternehmen ansiedeln (aktuell gibt es nur das Nord-Werk der Gebrüder Waasner Elektrotechnische Fabrik GmbH), das Gewerbegebiet „Breite Süd“ ist jedoch noch in der Planung und wird dauern.
In der Pestalozzistraße entsteht darüber hinaus derzeit ein gigantisches Wohn- und Pflegeheim, die Bammersdorfer Straße wird endlich saniert, neue nachhaltige Energiekonzepte für das gesamte Viertel werden überlegt.
Und so fort, diese Liste ließe sich fortführen.
Menschen wollen mitgestalten
Und die Menschen wollen aktiv sein. Bei einem Workshop zur Evaluation der „Sozialen Stadt Forchheim-Nord“ vor einigen Wochen haben die Anwohner nicht nur fleißig mitgeschrieben, was sich ihrer Meinung nach in Forchheim-Nord verbessern sollte. Etwa, dass es endlich wieder gastronomische Angebote geben solle, oder dass sich die Radverbindung zu den Schulen verbessern müsse.
Sie haben ebenso gegrübelt, wie sie sich selbst besser einbringen könnten, um ihren Stadtteil weiter aufzuwerten. Es entstanden Ideen, wie die Nachbarschaftshilfe aktiver zu unterstützen und sich als Lesepaten für immigrierte Kinder einzusetzen.
Und das Vorhaben, sich positiver über „ihr Forchheim-Nord“ zu äußern. Denn selbst wenn das „Scherbenviertel“, so es das außerhalb der Welt der Vorurteile jemals wirklich gab, mittlerweile Geschichte ist; in den Köpfen vieler Forchheimer lebt es weiter.
Auch wenn keine Scherben zu finden sind.