Autor: Florian Herrnleben Digitales Storytelling: Franziska Schäfer
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Robert donnerte über die Autobahn. So oft schon war er die A73 nach Hause in Richtung Bamberg gefahren. Doch nur selten war Robert Leibold so unentspannt wie an Weihnachten. Zwei Jahre hatte er die perfekte Ausrede, war mit seiner Lebensgefährtin zu deren Eltern gereist an Heiligabend. Nicht, dass er ihre Verwandtschaft hätte mehr leiden können als seine eigene. Aber der emotionale Abstand – und Rotwein – hatten es erträglicher gemacht.
Vor zwei Wochen dann die Trennung. „Endlich!“, sagten viele. Judith, nun seine Ex, war krankhaft eifersüchtig, hatte ihn auf Schritt und Tritt verfolgt, sogar sein Smartphone kontrolliert.
Du! Bist! Meins!
hatte sie ihm kürzlich noch entgegengezischt auf dem Weihnachtsmarkt vor allen Arbeitskollegen und deren Partnern.
Verflucht!
Erst im letzten Moment nahm er die Blinklichter der Baustelle wahr. Er trat auf die Bremse. Nichts, keine Reaktion! „Ist es glatt?!“
Viel Zeit zum Gedankenfassen blieb ihm nicht, ein Stich im Rücken, kalter Schweiß. Er riss am Lenkrad, um nicht frontal in die Baustelle zu rasen. Die erleuchtete Altenburg war das letzte, was er sah. Die nasse Fahrbahn, abruptes Gegenlenken. Er überschlug sich bei voller Geschwindigkeit mehrfach die Böschung hinunter. Das Auto blieb auf dem Dach liegen. Irgendetwas dampfte. „I'll Be Home for Christmas“ summte nur das Radio mit letzter Kraft. Robert summte nicht mehr.
Konn der Robert net ahmoll pünktlich sei?!
Bei Familie Leibold, wohnhaft in der Altbauwohnung eines gutbürgerlichen Viertels der Domstadt, war man schon vor Jahren dazu übergegangen, Verspätungen des Sohns als Naturphänomen zu betrachten. Dass er bereits die Vorspeise verpasst hatte, überraschte niemanden am Tisch. Man war längst beim Hauptgang.
Isser nuch mit derä Julia zam?
fragte Ilse Schwankmann, die alleinstehende Schwester der Gastgeberin.
Judith!
korrigierte Gerda Leibold. „Nein! Vor zwei Wochen getrennt.“ - Schweigen am Tisch.
„Konnte sie eh nie leiden“, war das Emotionalste, was Roberts Tante zu dessen Ex einfiel. Sie hatte die Angewohnheit, alles nachzusalzen, ohne zu probieren. Es gab Linsen, Spozen und Wienerla. Wie jedes Jahr. Die Salzmühle knirschte unerbittlich.
Diese Julia woäh scho so a Bissgurgn!
Judith…
seufzte diesmal Gerdas Mann Hans-Walther.
Ja! Briddschla, häddmer früher gsochd!
Neben Ilse Schwankmann und dem Gastgebereherpaar Leibold saßen noch Tochter Barbara und Heinrich Gunzer am Tisch. Alle nannten ihn nur „Onkel Heiner“, doch er war kein leiblicher Onkel, sondern ein in dritter Ehe angeheirateter Großonkel von mittlerweile 87 Jahren.
Er hatte selbst keine Nachkommen oder nähere Verwandtschaft, war aber wohlhabend, weil er sich vor vielen Jahrzehnten beträchtliches Vermögen der Linie Leibold aufs eigene Konto geheiratet hatte. Deshalb tolerierte man ihn und seine obszönen Altherrenwitze zu den Familienfestivitäten. Das Geld musste zurück!
Ich brauch ann Wein!
grätschte Barbara in die scheinbare Stille. Sie saß neben dem seniorigen Großonkel und ertrug nicht, mit welcher Lautstärke er sich die Linsen aus seinen schlechtsitzenden Dritten zullte.
„Es ist noch Wein im Kühl…“, wollte ihr Vater sie noch bremsen. Doch weil Onkel Heiner akustisch zu eskalieren drohte, überhörte sie ihren Vater nicht ganz unabsichtlich. Barbara steuerte in Richtung Keller. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Im Treppenhaus hörte man sie schwungvoll die Treppenstufen hinunterspringen.
„Onkel Heiner, willst noch was?“, fragte Ilse.
Er schaute ratlos auf.
„Obsd nuch woss willsd?!“
Mid dem Sauerampfä vo de Bambercher kenn me mir gstohl gebleib!
Der gebürtige Unterfranke hatte nur etwas von Wein verstanden.
Ilse Schwankmann fuchtelte ungefragt mit der Salzmühle über seinem Teller herum: „Wo bleibdn Babsi?“
Noch bevor jemand antworten konnte, begann Heinrich Gunzer zu röcheln. Sein Augenweiß war plötzlich blutrot. Alle am Tisch waren sich einig: Der Erbfall sollte zwar zeitnah, aber nicht direkt an Heiligabend eintreten. Zumindest nicht vor dem Nachtisch. „Onkel Heiner!“ - Ilse wurde panisch: „Hans! Mach was! Der erstickt!“
Gerda Leibold sprang auf:
Sollmer mal klopfn? Heiner! Maanst, Klopfn hilft?!
Doch der weiße Schaum, der sich plötzlich aus seinem Mund drückte, widerlegte die Hoffnung, er hätte sich nur verschluckt. Mit einem lauten Rumms kippte er samt Stuhl rückwärts zwischen Eiche-Rustikal-Schrankwand und Cycaspalme.
„Er braucht was zum Trinken!“, Gerda rannte mit einer Entschlossenheit in die Küche, als könne sie mit dem Glas Wasser einen Wohnhausbrand löschen. Onkel Heiners Gesichtsausdruck reichte allerdings, um sein tatsächliches Ableben nicht weiter in Frage zu stellen. Er war tot.
Oh, Gott! Wo ist Barbara?! Ich hol sie!
keuchte Ilse und stürzte zur Wohnungstür hinaus
Und ich…. Ich ruf den Notarzt!
stammelte Hans.
In diesem Moment kam Gerda aus der Küche zurück, ihr Blick war versteinert. Sie stolperte ihrem Mann entgegen, das Glas Wasser glitt ihr aus der Hand. „Hodd Klopfn gholfn?!“ ächzte sie.
„Gerda?“, Hans war irritiert angesichts ihres starren Blicks.
Woäh zä viel Salz, odä?
hauchte sie mit letzter Kraft und brach zusammen.
„Gerda?!“ - Erst jetzt sah er die große Geflügelschere, die bis zum Griff in ihrem Rücken steckte.
Die hosd doch ledsda Wochn extra nuch schleifn lossn!
Ein Schrei hallte plötzlich draußen durch das Treppenhaus. Lautes Poltern, dann Stille.
Ilse?!
Hans riss die Wohnungstür auf, ein kurzer Blick ins Treppenhaus genügte, um den Grund zu erkennen: Ilse lag - leblos, weil Genickbruch - auf dem ersten Treppenabsatz.
Hans zog sein Handy aus der Kunstledergürteltasche. „Allzeit bereit!“ dachte er. Wäre da nicht die Sache mit dem Empfang. Kein Balken! Ein kurzer Fluch, dann rannte er zurück in die Wohnung und raus auf den Balkon. Er wählte.
Ja, hier Leibold! Kommen Sie schnell in die…
Noch bevor er die Adresse durchgeben konnte, spürte er nur einen kräftigen Stoß von hinten und stürzte über das Geländer, drei Stockwerke tief hinunter auf den schneebedeckten Parkplatz.
Ein letztes Röcheln von ihm unten, ein letzter Atemzug von Gerda oben. Im Weinkeller flackerte das Licht.
Im Eck kurz vor dem Weinregal lag Barbara, eine abgebrochene Rauchbierflasche quer im Hals. Nichts als Stille. Es roch nur nach Gas.
Ein stürmisches Klingeln an der Tür zerriss die Szenerie.
Alle Tischgäste waren schlagartig wieder im Hier und Jetzt.
„Ah, das werden die Nachbarn sein! Christbaumloben! Lasst uns nachher weiterspielen!“, rief Hans in die Runde und ging zur Tür.
„Ganz schön brutal, euer Krimi-Dinner!“ – Ilse fand es entsetzlich.
„Ja, räumt mal das Spiel beiseite, ich hol die Feuerzangenbowle!“, Gerda Leibold sprang auf in Richtung Küche, Robert nutzte die Pause für eine Zigarette auf dem Balkon. Onkel Heiner setzte an zu dem einen Witz, den alle schon kannten, während Ilse und Barbara so taten, als seien sie gerade in ein Gespräch vertieft.
Nur Judith, seit zwei Jahren Roberts Freundin, blieb ruhig an der Stirnseite des Tischs sitzen. Neben ihr vibrierte sein Handy. Sie wusste längst, wer ihm laufend schrieb. „Du! Bist! Meins!“, hatte sie ihm noch vor wenigen Wochen zugezischt, nun googelte sie nach Bremsleitungen.
Und im Radio lief
I'll Be Home for Christmas